Sind Philosophen verrückt? Woher diese Annahme stammt

Bei manchen philosophischen Aussagen kann man leicht den Eindruck erhalten, dass der Verfasser durchaus verrückt war oder ist. Aber was genau ist dran an dieser Annahme?

Kurzgesagt, gab es verrückte Philosophen, doch sind es die meisten nicht. Oft entsteht der Eindruck, dadurch dass die philosophischen Aussagen zum einen Komplex formuliert werden und zum anderen abstrakte Gedanken darstellen, die häufig von der normalen Wahrnehmung der Gesellschaft abweichen.

Genau das werden wir uns in diesem Artikel anschauen. Ebenfalls werden wir einen Blick darauf werfen welche Philosophen tatsächlich verrückt waren oder sind.

Komplex formulierte Philosophie = verrückt?

Je komplexer ein Sachverhalt formuliert ist, desto abstruser mag er einem erscheinen. Aber ist dieser deshalb auch automatisch unvernünftig oder gar verrückt? Ganz so einfach ist es natürlich nicht.

Einer der Philosophen die besonders Komplex formuliert haben war zweifelsohne Lao Tzu. Wer seine Lehren kennt wird vermutlich zustimmen, dass es im Normalfall nicht reicht einen Satz einmal zu lesen. Ich persönlich muss eingestehen, dass ich so manchen Satz fünf oder sechs mal gelesen habe und teilweise noch immer nicht vollständig verstanden habe. Das kann von Zeit zu Zeit frustrierend sein und den Gedanken aufkommen lassen, dass es vielleicht keinen klaren Sinn in der jeweiligen Aussage gibt. Aber das ist, wenn man ehrlich mit sich ist, eine Limitierung seiner selbst verschuldet und hat nichts mit der Vernunft des Verfassers zu tun.

Generell ist Philosophie eine Disziplin, welche auf Vernunft basiert. Nichts steht derart im Mittelpunkt, wie wie das Denken. Entsprechend üben sich Philosophen darin, immer besser zu werden, wenn es darum geht nachzudenken. Das mag banal klingen, ist es aber nicht. Wir Menschen haben die Tendenz unser eigenes Können zu überschätzen (Quelle). So gehen wir davon aus, dass wir alle besonders gut im Nachdenken sind. Ich bin da keine Ausnahme. Aber seit ich vor Jahren damit begonnen habe mich mit Philosophie zu beschäftigen, ist mir aufgefallen, dass ich zwar nachdenke und häufig zu ganz passablen Schlüssen komme, ich aber definitiv nicht so gut bin, wie angenommen.

Man könnte hier den Dunning-Kruger Effekt heranziehen, welcher besagt, dass wir uns stark überschätzen, wenn wir uns im Anfängerbereich eines Themengebietes aufhalten. Je weiter wir voranschreiten und je besser wir ein Themengebiet verstehen, desto besser wird unsere Selbstwahrnehmung. Im Mittelfeld wird uns klar, dass wir einen Großteil noch gar nicht kennen, geschweige denn verstanden haben. Oft sogar denken wir in diesem Stadium, dass wir schlechter sind, als es eigentlich der Fall ist. Und wenn wir dann tatsächlich ein Experte werden, wird die Selbstwahrnehmung entsprechend auch besser. Uns wird bewusst was wir wissen und wissen was wir nicht wissen.

Der Dunning-Kruger Effekt beschreibt die Einschätzung der eigenen Kompetenz bei fortschreitender Fachkenntnis

Jeder der geistigen Größen beim Formulieren zugehört hat, wird verstehen was ich damit meine, wenn ich sage, dass richtiges Nachdenken viel mehr ist, als das was von der breiten Masse betrieben wird. 

Ein faszinierendes Beispiel finde ich in dieser Hinsicht Jordan B. Peterson, der enorm komplexe Gedanken konstruieren und auch formulieren kann. Es ist beinahe so als könnte man ihm ansehen, wie die Zahnräder in seinem Kopf ineinander greifen, während aus verschiedenen Ventilen Dampf austritt und so unter großen Anstrengungen etwas erschaffen wird, das viele Ebenen tief geht.

Da liegt der wesentliche Unterschied. Weniger geübte Personen, wie ich, bewegen sich beim nachdenken meist nur ein paar wenige Ebenen tief. Philosophen versuchen aber häufig (bewusst aber nicht immer) Dinge zu verstehen indem sie viele Schichten analysieren.

Es ist daher verständlich, dass philosophische Konzepte nicht mit einigen wenigen Worten vermittelt werden können. Stattdessen benötigt es komplexe Strukturen in Schrift und Sprache.

Wo wir gerade bei Schrift und Sprache sind: es ist auch so, dass viele der großen Philosophen in anderen Epochen lebten, in denen sich die Ausdrucksweise von der heutigen zum Teil extrem unterschied. Altertümliche Sprache hat die Tendenz merkwürdig auf uns zu wirken. Dieses befremdliche Gefühl kann unter Umständen ebenfalls als Verrücktheit fehlinterpretiert werden.

Von der gesellschaflichen Wahrnehmung abweichende Konzepte = verrückt?

Laut Definition im Duden gibt es im wesentlichen zwei Bedeutungen für Philosophie:

  1. Das Streben nach Erkenntnis über den Sinn des Lebens, das Wesen der Welt und die Stellung des Menschen in der Welt; Lehre, Wissenschaft von der Erkenntnis des Sinns des Lebens, der Welt und der Stellung des Menschen in der Welt
  2. die persönliche Art und Weise, das Leben und die Dinge zu betrachten

Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass Philosophen sich mit Sachverhalten beschäftigen, die unsere gewohnten Wahrnehmung und unsere gewohnten Ansichten widersprechen oder sich zumindest stark von ihnen unterscheiden. Das kann durchaus als verrückt empfunden werden.

Dieses Phänomen ist in vielen Feldern der Natur zu beobachten. Alles was nicht dem Konsens der Vielen entspricht, stößt auf Ablehnung. Bei manchen nur zu Beginn (wenn eine gewisse Empfänglichkeit und Neugier besteht) bei anderen aber vehement. Die Ablehnung kann verschiedene Gründe haben. Zum Beispiel Angst vor Neuem, Angst vor Identitätsverlust, Arroganz.

Gehen wir also auf alle drei Punkte ein:

Angst vor Neuem

Evolutionsbedingt hat der Mensch eine Scheu gegenüber Dingen, die ihm fremd sind. Das macht auch Sinn, da sonst potentielle Gefahren zu spät bemerkt werden konnten. Es ist also ein Mechanismus, um das Überleben zu sichern. Aber rational betrachtet ist dieser Mechanismus in gewissen Bereichen unnötig und sollte dort als antiquiert gelten. Dem ist aber nicht so. Ein intellektuelles Gedankenspiel, sollte nicht weiter bedrohlich wirken. Immerhin haben wir die Möglichkeit es anzunehmen oder abzulehnen. Nachdem wir es uns angehört und darüber nachgedacht haben.

Angst vor Identitätsverlust

Nehmen wir an ein Philosoph sagt, das Leben sei sinnlos und wir sollen uns nicht Tag für Tag widerwillig aufopfern. Wir sollen nicht stur auf ein hypothetisches Ziel am Ende (z.b. den Ruhestand) hinarbeiten, dessen Erreichen gar nicht gewiss ist und wir uns stattdessen entspannen könnten, da das Leben nur ein Spiel ist, dass wir spielen können aber nicht müssen. 

Eine Aussage wie diese kann als Angriff gewertet werden, Besonders wenn man konditioniert ist, sich über Leistung zu definieren, für den Ruhestand zu leben und so weiter. Immerhin würde das das eigene Wertebild entkräften.

In nahezu allen philosophischen Lehren sind derartige Aussagen jedoch nicht als Angriff gemeint. Vielmehr handelt es sich um freundliche Aufforderungen, die Dinge entspannter zu sehen. Das bleibt aber vielmals verborgen, weil man sich nicht tiefer mit der jeweiligen Lehre beschäftigt. Stattdessen lässt man sich gar nicht erst auf das Thema ein. Würde man es tun erführe man bald, dass es nicht bedeutet, man solle in Lethargie verfallen und nichts mehr anstreben, sondern schlicht die beruhigende Gewissheit haben, das alles halb so ernst ist, wie man sich gerne glauben macht.

Arroganz

Arroganz ist ein weiterer Faktor, durch welchen philosophische Konzepte oft Ablehnung  erfahren. Es ist nichts Neues, dass der Mensch glaubt er wisse schon alles. Bereits Epkitet sagte:

„Für einen Menschen ist es unmöglich, das zu erlernen, was er bereits zu wissen meint.“

Epiktet

Wer also dem Irrglauben erliegt, er wisse schon alles, läuft Gefahr Neues zu belächeln und als verrückt und abstrus abzutun.

Welche Philosophen waren verrückt?

Nicht alle Philosophen waren bei vollem Verstand. Es gibt durchaus historische Beispiele, die entweder als verrückt galten und philosophische Schlüsse daraus zogen, oder die tatsächlich als verrückt galten, weil sie philosophische Schlüsse zogen.

Beispielsweise gibt es Überlieferungen von Philosophen, die sich unter Drogen gesetzt haben um ihre Sinne zu erweitern und so quasi zu neuen gedanklichen Ufern aufzubrechen. 

Andere hingegen verloren sich, da sie beim philosophieren zu Schlüssen kamen, die sie an ihre Identität derart zweifeln ließen, dass sie den Verstand verloren. Ein Beispiel eines Philosophen, der sich gerade noch retten konnte, war beispielsweise David Hume, eine der wichtigsten Persönlichkeiten der westlichen Philosophie. Als er noch ein Teenager war und an der Universität von Edinburgh studierte, entdeckte er „eine neue Szene des Denkens“ und begann ein zehnjähriges Studium, dessen Strapazen ihn an den Rand eines Nervenzusammenbruchs brachten. Vernünftigerweise erkannte er, dass eine Fortsetzung dieses Weges ihn daran hindern würde, die gewünschte Einsicht zu erlangen, und er begann einen aktiven Lebensstil, um seine geistige Gesundheit zu bewahren.

Im Großen und Ganzen würde ich mich jedoch gerne vom Begriff “verrückt” distanzieren und stattdessen “mentale Erkrankungen” oder “Geisteserkrankung” verwenden.

Hier ist eine Liste mit denen Philosophen der Geschichte, welche mentalen Krankheiten litten (teils nachweislich, teils vermutlich):

Sokrates

„Ihr habt vielleicht gehört, dass ich von einem Orakel oder Zeichen gesprochen habe, das mir erscheint und das mein Ankläger Melitus in der Anklageschrift lächerlich macht. Dieses Zeichen habe ich, seit ich ein Kind war. Das Zeichen ist eine Stimme, die zu mir kommt und mir immer verbietet, etwas zu tun, was ich tun will, aber mir nie etwas befiehlt, und das ist es, was mich daran hindert, ein Politiker zu sein“.

Sokrates, der gemeinhin als Begründer der westlichen philosophischen Traditionen gilt, war sehr offen was den Umgang mit dem anging, was man heute wohl als eine Geisteskrankheit bezeichnen würden. Er war der Ansicht, dass Wahnsinn, wenn er von den Göttern inspiriert ist, dem Menschen seine größten Segnungen schenken kann. So beispielsweise Liebe, Poesie und die Philosophie selbst. Er stützte sich sogar auf seine „dämonisches Zeichen“, welche er als eine unabhängige Stimme in seinem Kopf beschrieb, die ihn warnte, wenn er dabei war einen Fehler zu begehen. 

Søren Kierkegaard

Søren Kierkegaard, gilt als einer der Begründer des Existentialismus. Er stand den idealistischen Philosophen seiner Zeit sehr kritisch gegenüber. Einer seiner Schwerpunkte war das Leben als einzelnes Individuum, wobei er sich auf die persönliche Entscheidung und die menschliche Realität fokussierte und betrachtete Depressionen als ein Versagen. Er war davon überzeugt, dass jede depressive Person stets „die gleiche oder vielleicht sogar eine größere Möglichkeit des entgegengesetzten Zustands“ habe. 

Diese Aussage ist beachtlich, wenn man berücksichtigt, dass Kierkegaard selbst und viele seiner Familienmitglieder unter schweren Depressionen litten. Eines der bekanntesten Zitate  Kierkegaard’s: „Meine Depression ist die treueste Geliebte, die ich gekannt habe…“

Kierkegaards Depressionen beeinflussten sein Werk entsprechend stark. Weiter galt er als exzentrischer Mensch der wahrscheinlich auch unter schweren sozialen Ängsten litt.

Adam Smith

Adam Smith, Autor von The Wealth of Nations, dem ersten Werk der modernen Wirtschaftswissenschaften, gilt als Begründer des Kapitalismus. Sein Leben bestand jedoch nicht nur aus der Hingabe an die Wissenschaft. Während seines Studiums in Oxford litt er unter Schüttelanfällen, die heute als Symptome eines Nervenzusammenbruchs angesehen werden. Im Laufe seines Lebens war er dafür bekannt, dass er Selbstgespräche führte, an eingebildeten Krankheiten litt und chronisch geistesabwesend war. Eine überlieferte Konsequenz dessen war, dass er zum Beispiel 15 Meilen außerhalb der Stadt mit nicht mehr als einem Nachthemd bekleidet spazieren ging.

Friedrich Nietzsche

„Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“

Diese Worte Nietzsches haben eine gewisse schwere, wenn man sich seinen Lebensverlauf ansieht. Seine Beschäftigung mit dem Tod Gottes und dem Willen zur Macht galt lange Zeit als Ursache, die ihn in den Wahnsinn trieb. Obwohl die Vorstellung von einem wissbegierigen Geist, der von seinen eigenen Bestrebungen zerstört wird, verlockend ist, diagnostizierten die Ärzte damals eine tertiäre Syphilis bei ihm, und später wurde eine manisch-depressive Erkrankung mit periodischen Psychosen und frontotemporale Demenz diagnostiziert. 

Seine letzten Werke Der Antichrist, Ecce Homo und der Tagebuch/Nachlass sind ziemlich spiegeln, die fortschreitenden Erkranken entsprechend wieder.

Neben der Erklärung des geistigen Verfalls durch Syphilis, gibt es aber auch mehrere Gründe, die dafür sprechen, dass seine Krankheit möglicherweise eine genetische, degenerative Hirnerkrankung war. Der junge Nietzsche litt unter häufigen Migräneanfällen mit Auren und neigte zu Depressionen. Hemelsoet und Devreese (2008) haben spekuliert, dass eine bessere Diagnose für Nietzsche das CADASIL-Syndrom wäre, das vielleicht besser sein Abgleiten in die Demenz und letztlich seinen psychotischen Zusammenbruch in Turin erklären könnte.

Michele Foucault 

Foucault war während seiner Zeit an der École Normale Supérieure dafür bekannt, dass er sein Zimmer mit grausamen Gemälden von Folter und Krieg geschmückt hatte. Der junge Michele neigte zu autoaggressivem Verhalten durch welches er sich selbst verletzte. Auch verfolgte er einmal einen Mitschüler mit einem Dolch. Während einer akuten Depressionen unternahm er sogar einen Selbstmordversuch.

Es wird vermutet, dass diese Erfahrungen ihn wahrscheinlich zum Projekt „Madness and Civilization“ (Wahnsinn und Zivilisation) inspiriert.

Quelle

Franz Kafka

Franz Kafka Monument in Prag

Kafka neigte zu Depressionen und litt an Tuberkulose, an der er ziemlich früh starb. In seinen Tagebüchern schrieb er einiges darüber, und die Nähe zum Tod hatte definitiv Einfluss auf sein Werk.

Albert Camus

Wenn man seine persönlichen Notizbücher liest, liegt die Vermutung nahe, dass Camus während eines Großteils seines kurzen Lebens mit suizidalen Gedanken und Depressionen zu kämpfen hatte. 

William James

Der Psychologe und Philosoph William James litt, wie auch seine Geschwister, in seiner Jugend an verschiedenen körperlichen und geistigen Krankheiten. Seine Geisteskrankheit „Neurasthenie“ zeichnete sich aus durch mehrere einzelne, schwere depressive Phasen, die monatelang andauerten und während derer er an Selbstmord dachte. Es gibt auch einige Vermutungen, dass er an einer bipolaren Störung litt. Er veröffentlichte jedoch sein ganzes Leben lang und starb in seinen Sechzigern einen natürlichen Tod.

Fazit

Nun weißt du, dass es Philosphen gibt, die man als „verrückt“ bezeichnen könnte, aber der Großteil nicht in diese Kategorie fällt. Du weißt auch, wieso sie oft entsprechend so wahrgenommen werden.


Dir hat der Artikel gefallen? Du kannst dich von uns über neue Artikel informieren lassen:


Ähnliche Beiträge