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Über die Frische der Beschränkung

In Zeiten, in denen es schier endlose extrinsische Einflüsse gibt, kann es schwer sein, sich ein Bild davon zu machen, was oder wer man genau sein will. Nichts desto trotz gibt es doch häufig einige Vorstellungen, welche Werte oder Charakterzüge man gerne in sich festigen würde. Bei eben diesen Vorstellungen verstehen wir erst, dass das Ich das wir derzeit sind und das Ich, welches wir sein könnten, Lichtjahre voneinander entfernt liegen.

»Wehmütig grüßt der, der ich bin, den, der ich sein möchte.«

Søren Kierkegaard

Nicht ohne Grund wählt Kierkegaard hier das Wort “Wehmütig”, denn es geht genau um diese, in anderen Worten, zarte Traurigkeit, mit welcher wir unser eigenes derzeitiges bruchstückhaftes Ich wahrnehmen. Wir haben in unseren Köpfen ein sehr genaues Bild von der Person, die wir sein könnten, wenn wir all das Schlechte, Faule und Verdorbene in unserem Charakter weglassen könnten. Wer wir sein könnten, wenn wir es wagen würden, ein bisschen weniger Rücksicht auf die derzeitigen gesellschaftlichen Normen zu geben.

Kierkegaard war durch seine Publikationen in sehr starke Reibereien mit dem damaligen Kopenhagener Klerus geraten. Er war nämlich der festen Überzeugung, dass der Mensch sein Leben selbst gestalte und nicht eine von Gott vorgegebene Flugbahn durchlebt. Dies traf natürlich auf starken Widerstand in der christlich geprägten Gesellschaft. Aus diesem Grund formulierte Kierkegaard einige Publikationen, welche die Aussage hatten, dass der Mensch nur dann wirklich frei leben kann, wenn er sich von der Gesellschaft, und damit einhergehend der Religion, löst.

Jeder einzelne muss für sich selbst entscheiden, wer sie oder er sein will. Dies zu erreichen ist dann allerdings noch einmal eine andere Geschichte. Schließlich steht nicht nur die Gesellschaft hierbei im Weg, sondern auch man selbst. Es ist häufig mit einem großen Aufwand verbunden, etwas an sich zu ändern, vor allem zum besseren. Wie wir durch Newton und sein erstes Gesetz wissen, beharrt ein Körper in seinem derzeitigen Zustand, bis eine einwirkende Kraft ihn dazu zwingt, dies zu ändern. Dies ist allerdings nur für den physischen Körper der Fall, auch unsere Psyche tendiert dazu, nichts am Status Quo zu ändern, solange keine Notwendigkeit hierfür besteht.

Es ist eben dieses Ausbleiben der Notwendigkeit, welches dafür sorgt, dass wir die Veränderung gar nicht erst anstreben. Wir wissen zwar Bescheid, dass wir uns ändern könnten und sollten, sehen hierfür allerdings keinen direkten Handlungsbedarf. Und aus eben diesem Grund grüßt der, der ich bin, den, der ich sein möchte, wehmütig.

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