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Tolkien eigentliches Thema hinter Der Herr der Ringe

In einem holzvertäfelten Raum der vermutlich ein Studierzimmer war, vor mehreren Stapeln Bücher sass ein alter Mann auf einem Stuhl. In einen für die damalige Zeit üblichen Tweed-Anzug gekleidet kniff er kurz die Augen zusammen und setzte sich seine Brille auf, bevor er zu vorzulesen begann. Dieser Mann war nicht nur angesehener Sprach- und Literaturwissenschaftler, sondern auch selbst Autor, dessen Werke sich noch – oder besonders – heutzutage weltweit größter Beliebtheit erfreuten. 

Als er fertig war, verkündete er, dass unabhängig davon, ob man mit den vorgetragenen Worten übereinstimme oder nicht, dies das überspannende Thema seines erfolgreichsten Werks war. Dem Der Herr der Ringe. Doch die vorgelesenen Worte entstammten nicht seiner Feder, sondern einem Zeitungsartikel, den er kurz zuvor gelesen hatte. Und die Zeitung hatte sie wiederum Simone de Beauvoirs Une mort très douce (auf deutsch als Ein sanfter Tod erhältlich) entnommen:

»Es gibt keinen natürlichen Tod: Nichts, was einem Menschen widerfährt, ist jemals natürlich, da seine Anwesenheit die Welt in Frage stellt. Alle Menschen müssen sterben: aber für jeden Menschen ist sein Tod ein Unfall und, selbst wenn er es weiß und einwilligt, eine ungerechtfertigte Verletzung.«

Simone de Beauvoir

In diesen Worten spiegelte sich für Tolkien wieder, was uns alle irgendwann im Leben umtreibt: Der Tod mag objektiv betrachtet in beinahe allen Kulturkreisen etwas normales, ja gar natürliches sein, doch subjektiv, für jeden einzelnen von uns, ist er, was uns selbst anbelangt, widernatürlich. Irgendwie unpassend, unververdient, oder mit de Beauvoirs Wort, ungerechtfertigt ereilt er uns. Es ist als wäre es nie ganz der richtige Zeitpunkt, zu dem er uns letztlich ereilt.

Beim Lesen dieser Zeilen kam vielleicht der ein oder andere Fall in den Sinn, in dem Menschen von dieser Welt in Frieden schieden. Ist das nicht ausreichender Beweis, dass die Sicht die sich in diesem Zitats abzeichnet falsch, oder zumindest nicht universell gültig ist? Falsch ist sie aus unserer Sicht keineswegs, aber auch wir teilen die Meinung: Sie trifft nicht immer zu.

Doch das muss sie auch nicht. Es reicht, dass jeder von uns irgendwann in seinem Leben den Tod als etwas unnatürliches wahrgenommen hat oder wahrnehmen wird. Wenn auch vielleicht – beziehungsweise hoffentlich – nicht beim eigenen Dahinscheiden, dann aber doch zumindest zuvor, in kritischen Situationen in denen wir den kalten Hauch des Todes bereits spürten oder als Menschen, aus unserer oder der Sicht anderer zu früh von uns gingen.

Der bloße Fakt, dass wird an irgendeinem Punkt die Meinung dieser Worte teilten, spricht ihnen Relevanz zu und zeigt uns, warum Tolkien in ihnen die Triebfeder, wie er es selbst nannte, erkennen konnte. Keine Geschichte, so meinte er, würde Menschen langfristig fesseln, wäre es nicht um des Todes Willen oder zumindest dessen Allgegenwärtigkeit.  

In zahlreichen fernöstlichen Philosophien findet sich eine derartige Haltung gegenüber dem Tod ebenfalls kaum. Dort ist er sogar noch natürlicher und wird auch so typischerweise wahrgenommen. Der Tod wird dort oft als ein inhärenter und organischer Aspekt des Lebenszyklus dargestellt, der die vergängliche und unbeständige Natur der Existenz hervorhebt. Im Gegensatz zu einigen westlichen Sichtweisen, die Angst einflößen oder den Tod als endgültigen Endpunkt sehen, betonen östliche Philosophien wie der Buddhismus und der Hinduismus die Idee der ständigen Veränderung und Erneuerung. Im Buddhismus zum Beispiel wird der Tod als Übergang betrachtet, als Wechsel von einem Seinszustand in einen anderen. Diese Sichtweise spiegelt sich in Praktiken wie der Kontemplation der Unbeständigkeit wider, bei der die Menschen ermutigt werden, die Vergänglichkeit des Lebens anzuerkennen. In der japanischen Kultur symbolisiert unter anderem die flüchtige Schönheit der Kirschblüten während des Hanami-Festes das vergängliche Wesen der Existenz und fordert die Menschen auf, den gegenwärtigen Moment zu schätzen. Im Hinduismus unterstreicht die Bhagavad Gita die Vergänglichkeit des physischen Körpers und fordert die Menschen auf, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, ohne sich in spekulative Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod zu vertiefen. Insgesamt plädieren die östlichen Philosophien für eine natürliche Akzeptanz des Todes und fördern einen achtsamen Ansatz für ein Leben im Einklang mit dem sich ständig verändernden Fluss des Lebens.

Nach etlichen Jahren die wir uns bereits mit den verschiedenen fernöstlichen Philosophien befassen, hat sich eine Vertrautheit mit diesen Betrachtungsweisen ergeben und unweigerlich auf unser Denken abgefärbt. Damit ist der Tod nicht nur auf gesellschaftlicher, sondern auch auf individueller Ebene etwas natürliches.

Währen wir jedoch diesen Teil des Buches schreiben, bereite ich (Simon) mich auf eine Beisetzung eines ehemaligen Schulkameraden vor, die am nächsten Tag in einem Friedwald stattfinden wird. Viel zu früh ist er von uns gegangen, sind wir uns beide einig und doch finden wir auf einer objektivieren, ruhigeren Ebene nicht abnormes an all dem. 

Und so ist der Tod irgendwie beides. Völlig natürlich und der gewohnte Lauf der Dinge und doch auch eine ungerechtfertigte Verletzung des Lebens. Darüber hinaus ist er aber vorallem eines: Er ist die Triebfeder, um wieder auf Tolkiens treffende Beschreibung zurückzukommen – und das nicht nur für Geschichten, sondern für das Leben an sich. Nicht hilft uns mehr, intensiver zu leben, als die Aussicht auf den Tod. Solltest du bereits unsere Artikel über den Stoizimus gelesen haben, bist du bereits vermutlich bereits vertraut mit dem stoischen Grundsatz Memento Mori, der auf deutsch übersetzt so viel wie „erinnere dich an den Tod“ bedeutet und uns an unsere Sterblichkeit erinnert. Nicht, um in Angst vor dem Tod leben sollen, sondern vielmehr, um im Bewusstsein des Todes leben und ihn als Motivation nutzen sollen, unser bestes Leben zu leben.

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